´rübergemacht - Von Anne Dorn

Erschienen im Hunzinger Bühnenverlag 1992

Personen:

Helen, Mitte fünfzig, Stadtkonservatorin

Lena, Helens Schwester, Ende Fünfzig

Katja, Lenas Tochter Mitte zwanzig, Kindergärtnerin

Erich, Helens Lebenskamerad, Ende Vierzig, Wasserbauingenieur, Alkoholiker

Axel, Helens Sohn, Ende Zwanzig

Fünf Schauspieler
Handlungsort: Eine westdeutsche Großstadt / Köln
Handlungszeit: Frühjahr 1990:

Helen, Stadtkonservatorin , Mitte fünfzig, steckt mit ihrem arbeitslosen Partner Erik, Ende vierzig, Alkoholiker, in einer chronischen Beziehungskrise. Noch dazu belastet sie ihr Sohn Axel mit seinen spontanen Aktionen, die regelmäßig schief gehen. Diesmal ein erheblicher Blechschaden an ihrem Auto.
Da taucht unangemeldet Lena, ihre Schwester auf.
Lena, Ende fünfzig, hat ihre gemeinsame Heimatstadt Dresden hinter sich gelassen und in den Westen `rübergemacht`. Ihre erste Anlaufstation ist Helen.
Helens Freude über das Wiedersehen wird von ihrer Angst, nun noch mehr von anderen über ihre Kräfte hinaus genutzt zu werden, überlagert. Lena zeigt ihre Enttäuschung und stellt klar, dass sie ihrer Tochter Katja gefolgt ist.
Helen ist entrüstet und entsetzt darüber, dass nun niemand mehr für die Pflege ihrer Herkunft, die ihr moralischen Halt gibt, zuständig sein wird.
Sie wirft ihrer Schwester vor, -einfach abzuhauen- und trifft Lenas wunden Punkt:
- Bewahren für Andere – während Helen schon Jahre zuvor abgehauen ist.

In dem leidenschaftlichen Konflikt konfrontieren sich die Schwestern mit ihren Erwartungen aneinander, die durch ihre unterschiedlichen Lebensbedingungen und deren Benefikationen und Entbehrungen geprägt sind.
Katja, die Tochter Lenas, kommt, um ihre Mutter abzuholen. Sie wehrt sich dagegen, von Lena vereinnahmt zu werden und besteht auf ihrem alleinigen Standpunkt und Neuanfang im Westen. Wütend verläßt sie die Wohnung.
Lena ist erschrocken und verzweifelt. Helen überzeugt sie, dass es besser ist, die Nacht bei ihr zu verbringen als in ein Hotel zu gehen. Näher gerückt setzen die Schwestern ihre Auseinandersetzung fort. Sie decken einander ihre verheimlichten Geschichten, ihr Hoffen und Scheitern auf.
In der Nacht kommt Erich in seinem üblichem Zustand. Trotz Alkoholismus hat er sich seinen Feinsinn bewahrt. Er spürt, dass es in der Atmosphäre des gegenseitigen Bekenntnisses immer sinnloser wird, seine wortlosen Forderungen und ungerichteten Anklagen an sein `erkranktes Schicksal´ und alle, die darin vorkommen, aufrechtzuerhalten.
Er interpretiert den allgemeinen Aufbruch zum Neuanfang auf seine Weise.

Axel kommt am frühen Morgen, um den von ihm angerichteten Schaden so klein wie möglich zu halten. Er vermeidet jede Art von artikulierter Zugehörigkeit. Er teilt mit, dass er Erich mit seiner Fähigkeit, sich ohne Mühe aus allem herauszuziehen, bewundert. Als er den Auftrag erhält, Erich zum Familienfrühstück der zur Zeit ausgesöhnten Schwestern zu holen, findet er ihn tot…


Anne Dorn zu ’rübergemacht


(…)
Obwohl - oder gerade weil - mein Vater im August 1978 verstorben war, hielt ich den Kontakt zur Sächsischen Familie weiter aufrecht, besuchte nun Vettern, Schulkameraden, - es war mir nie gelungen, zu denken ’das geht mich nichts an’. Wunderbare Papiere, von in ständiger Bedrohung lebenden Bürgerrechtlern kamen mir in die Hände, so ein Text mit dem Titel ’Gedanken gegen die Resignation’ von einem Psychologen aus Stendal. Und ich machte es mir zur Aufgabe, diese Gedanken weiterzuleiten an größere Bürgerrechtsgruppen in der weiten Welt, beispielsweise in New York. Die Frage, ob es Zufälle im Leben gibt, möchte ich ab und zu verneinen, stieg ich doch am 9.November 1989 in Köln in den Nachtzug Paris-Krakau, um meine das Jahr über vor mich her geschobene Reise nach Sachsen anzutreten. Es ist einfach unbeschreiblich, wie es mich am 10. November in Dresden und an den folgenden Tagen, Wochen und Monaten auch in Köln übermannte: Ich hatte das Gefühl, man müsse die von mir absplitternde, jahrzehntelange, innere An spannung von meinem Körper herunterprasseln hören.
Die Wiedervereinigung, die für mich eine wirkliche W i e d e r v e r e i n i g u n g war, denn ich war ja in der Weimarer Republik, die vom Rhein bis zur Oder reichte, geboren, und Dresden war für mich die Multi-Kulti-Kunststadt mit staunenswerten Dingen aus aller Welt gewesen, - dieses Auferstehen der alten Selbstverständlichkeit war für mich bares Glück. Auch, wenn ich sofort die Tsunami-Wellen der Ratlosigkeit beim Aufeinandertreffen deutscher Menschen an den bisherigen ’Küsten’ der Supermächte UdSSR und USA vor mir sah. Ich bekam im Frühjahr 1990 ein dreimonatiges Stipendium im neu eröffneten Künstlerdorf Schöppingen. Dort, in der Stille der Rübenfelder, wagte ich eine andere Art Grenzüberschreitung: Meine heftigen Gefühle verlangten nach Verlautbarung. Ich begann mein erstes Theaterstück: ’rübergemacht.
(…)


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